Dienstag, 12. März 2024, Jacobihaus Düsseldorf

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Veranstaltung: Evangelische Gemeinde Tutzing,
vorbereitet durch den AK Stadt des BDA-Bundesverbands

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Veranstaltung: Evangelische Gemeinde Tutzing,
vorbereitet durch den AK Stadt des BDA-Bundesverbands

Lebensform Stadt - Programm[PDF 2,23 MB]

Fakultät für Architektur & Stadtplanung Stuttgart

uni-stuttgart.de/si
fb.com/staedtebaukolloquium

Im Städtebau geht es wesentlich um das Verhältnis verschiedener Einzelelemente zu einem größeren Ganzen. Die Relation von Haus und Stadt wurde an verschiedenen Orten zu jeder Zeit immer wieder anders definiert und bewertet. Vor diesem Hintergrund verdeutlicht sich die kulturelle Relevanz von Städtebau sowie die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen Architektur und Städtebau immer wieder neu zu denken.

Betrachtet man die Entwicklung der europäischen Städte, entsteht leicht der Eindruck, dass mit Beginn der Moderne dieses Verhältnis aus den Fugen geraten ist. Hans Kollhoff hat diesen Zusammenhang in seinem Text „Architektur kontra Städtebau“ dargestellt. Demnach ist es heute nicht mehr möglich, zeitgenössische Architektur mit einer selbstverständlichen städtebaulichen Raison auszustatten – anstatt dessen gibt es nur noch Architektur.

Rem Koolhaas hat sich der Thematik ebenfalls gewidmet. In „The City of the Captive Globe“ beschreibt er die friedliche Koexistenz der divergierenden europäischen Ideologien als besondere Eigenschaft Manhattans und bemerkt den komplementären Charakter unterschiedlicher Architekturen im dichten Nebeneinander einer Weltstadt.

Begreift man die Moderne aus dem Zusammenhang der Globalisierung, erklären sich der in beiden Texten thematisierte Pluralismus und die Verbreitung kultureller Vielfalt nahezu von allein. Eine Vielzahl unterschiedlicher Ideen existierte räumlich und zeitlich getrennt zwar bereits vor der Moderne, doch erst die Globalisierung hat die unterschiedlichen Erfahrungen, Eindrücke, Meinungen und Haltungen zeit- und ortsgleich geschaltet.

Welche Konsequenzen ergeben sich dadurch für die Städte und ihre Planung? In der Praxis entstehen entweder homogenisierte Inseln mit klaren Grenzen in der Größe von Nachbarschaften oder es bleibt beim pragmatischen Mix aller Ideen auf engstem Raum. Beide Lösungen versprechen wenig Nachhaltigkeit. Homogenisierte Inseln fördern die gesellschaftliche Segregation. Die wilde Mischung ist hingegen stets ästhetisch laut und folgt dem bereits angesprochenen Prinzip „nur noch Architektur“, wodurch stadträumliche Aspekte in den Hintergrund rücken.

URBAN BLEND sucht einen Ausweg aus diesem Dilemma und fordert aus der Perspektive des großen Ganzen der Stadt ein ausgewogenes Maß an Diversität und Durchmischung seiner Teile ein.

Die Forderung nach Durchmischung ist nicht neu – man kennt sie auf funktionaler und sozialer Ebene. Spätestens nach Fertigstellung der Großsiedlungen der 60er Jahre erkannte man, in welch problematische Richtung das lange propagierte Prinzip der Funktionstrennung führt. Mehr und mehr stellte man fest, dass quantitative Dichte kein Garant von Urbanität sein kann. Schon Alison und Peter Smithson stellten dar, dass Urbanität von einer spezifischen Vielfalt abhängt, welche sich im öffentlichen Raum abzeichnet. Ihr Begriff der „konglomeraten Ordnung“ vermittelt im Rückgriff auf traditionelle orientalische Stadtstrukturen bereits etwas von der Offenheit im Sinne flexibler Weiterentwickelbarkeit – sei es langfristig oder temporär im Sinne partizipatorischer Einflüsse durch die Bewohner.

URBAN BLEND greift den Gedanken auf und formuliert den Anspruch, Mischung nicht nur funktional und sozial einzufordern, sondern ebenso kulturell. Gemeint ist die ästhetische Artikulation des dichten Nebeneinanders unvereinbarer Zielvorstellungen als Kern des Urbanen. Es handelt sich dabei um das Abbild der Teilhabe innerhalb der individualisierten und globalisierten Gesellschaft. Der Ansatz ist gleichwohl idealistisch wie pragmatisch.

Scheinbar nähern wir uns dem alten asiatischen Weltbild immer mehr an, bei dem der Mensch der Natur nicht dialektisch gegenübersteht, sondern sich als Teil des größeren Systems Natur begreift. Wenn wir in Europa heute von Stadtlandschaft sprechen und die Stadt als zweite Natur begreifen, dann folgen wir mehr und mehr dem asiatischen Verständnis, in dem die Stadt und jegliches Element der Stadt seit Jahrtausenden selbstverständlicher Teil eines größeren Zusammenhangs ist. Im ungeplanten organischen Städtebau kommt unter anderem die Relevanz der vierten Dimension zum Ausdruck. Die offenen additiven Strukturen der konglomeraten Ordnung vermitteln selbstverständlich zwischen dem immer und nie fertigen Zustand der Stadt. Hierin offenbart sich eine große Stärke im Unterschied zu den starren Leitbildern der wiederentdeckten europäischen Stadt.

Die Globalisierung bietet uns die Chance, voneinander zu lernen. Längst haben sich zwischen den verschiedenen Kulturen Kurzschlüsse und überkreuzte Identitäten entwickelt, deren Relevanz von wachsender Bedeutung ist. Die Entfaltung dieser verbindenden Kräfte birgt für die Stadt ein größeres Potential als die Konzentration auf das erstarrte europäische Erbe.

URBAN BLEND möchte das städtebauliche Spektrum erweitern und aus allen gültigen architektonischen Ansätzen neue Urbanismen generieren.

3 Fragen:

  1. Wie lässt sich die Vielfalt der globalisierten Welt in der Einheit der Stadt organisieren?
  2. Benötigen wir dafür neue Leitbilder oder sind Leitbilder grundsätzlich problematisch?
  3. Welche Bedeutung könnte dem Prinzip der kulturellen Mischung im Sinne von URBAN BLEND zukommen?

 

Vollständiger Brief an die Kolleginnen und Kollegen:

UB_b17_Musterbrief_final [PDF 111,68 KB]

Veranstaltung: Evangelische Gemeinde Tutzing,
vorbereitet durch den AK Stadt des BDA-Bundesverbands

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Düsseldorf, November – Dezember 2014

Der Landesvorsitzende des BDA Bayern Karlheinz Beer begrüßte die Gäste mit der Feststellung, dass es an der Zeit sei, mutiger und fundierter über Schönheit in der Architektur zu reden. Beer erhoffe sich hierzu von dem Podiumsgespräch Reflexion, Inspiration und Tatkraft. Wer ist verantwortlich für die Stadtgestalt? Was bleibt jenseits ökonomischer, juristischer und politischer Sachzwänge, um dem ursprünglichen Begriff der „Stadtbaukunst“ wieder Geltung zu verschaffen? Können die Erwartungen der Gesellschaft an eine qualitätvoll gebaute Umwelt, die auch emotionale Bedürfnisse nach Schönheit und ästhetischer Befriedigung erfüllt, eingelöst werden?

Seit einiger Zeit besteht im BDA Bayern eine Arbeitsgruppe Städtebau, welche im Vorlauf der Veranstaltung einen Aufruf zum Thema „Stadtbaukunst“ unter den BDA-Mitgliedern gestartet hat, mit dem eine Sammlung realisierter Beispiele neuerer Zeit im In- und Ausland zusammengestellt werden konnte. Die ausgewählten Projekte sollen exemplarisch einen Beitrag zu diesem Begriff vermitteln und auch das Selbstverständnis des BDA zum Städtebau wiederspiegeln. Die Auswahl ist unter www.bda-stadtbaukunst.de zu sehen.

Aus der genannten Sammlung städtebaulicher Realisationen wurden 3 Projekte ausgewählt, die von den Mitgliedern der Arbeitsgruppe kurz dargestellt wurden, um dann im Podiumsgespräch jeweils anhand einer vorformulierten These und einer Fragestellung diskutiert werden. Sie verkörpern jeweils eine wichtige Tendenz in der Entwicklung des verdichteten Städtebaus seit 1945. Ihre Bewertung im Hinblick auf das Primat der städtebaulichen Gestalt stellte sich jeweils auf neue Weise:

Kabelwerk, Wien 1996 – 2007
Planung: dyn@mosphäre, ARCItexture team + the POOR BOYs ENTERPRISE

Eine prägnante städtebauliche Setzung mit relativ hoher Dichte (GFZ 2,0) in einem heterogenen Wiener Vorstadtgebiet. Die auf den ersten Blick zufällig wirkende, zersplitterte Anordnung von Gebäuden ist Ergebnis einer ausgefeilten Konzeption starker und sinnfälliger Wegevernetzungen mit dem Umfeld, verbunden mit ungewöhnlicher Reichhaltigkeit von Raumbildungen, Freiraumelementen und Architektursprachen. Ein spannendes neues Stück Stadt.

These: Schön ist, wenn städtische Räume so gestaltet und verknüpft sind, dass Begegnungen und Austausch zwischen Bewohnern und Passanten entstehen!
Frage: Braucht Abwechslungsreichtum eine kräftige architektonische und räumliche Inszenierung?

Schönheit wird in der Diskussion eher auf den zweiten Blick konstatiert oder trotz der urban geprägten Aufenthaltsqualitäten sogar als solche verneint. Andererseits wurde eine prinzipielle sprühende Lebendigkeit gesehen und eine „komplizierte“ Schönheit ausgemacht, die Leute auch anziehen kann, dorthin zu gehen. Der Vorteil, dass hier Begegnungen stattfinden, könnte aber andererseits auch als Zwang , dem man nur schwer ausweichen kann, empfunden werden

Scharnhauser Park, Ostfildern 1993 – 2006
Planung: Janson + Wolfrum

Die Konzeption einer neuen Stadt im zersiedelten Umfeld von Stuttgart auf einer militärischen Konversionsfläche von 150 ha mit markanten, identitätsbildenden städtebaulichen „Monumenten“. Besonders hervorstechend ist die Anlage einer großen Landschaftstreppe mit freiem Blick in die schwäbische Alb. Sie soll einen erinnerbaren Ort schaffen, der diesem Siedlungsschwerpunkt eine eigene, unverwechselbare Identität verschafft. Die Planung erhielt 2006 den Deutschen Städtebaupreis.

These: Schön ist, wenn ein einzigartiger großmaßstäblicher Freiraum, gefasst von klaren Baukörpern einer neuen Stadt unverwechselbare Identität verleiht!
Frage: Entsteht eine bessere Stadt, wenn unterschiedliche Nutzungen Teil einer räumlichen Komposition sind?

Hier wurde eine unmittelbare Schönheit erkannt, die aber auch z. T. als monumentalisierend empfunden wurde. Es handelt sich um ein kühn angelegtes Gebilde, das seine Wirkung nicht verfehlt. Andererseits wurde am Beispiel von eher durchschnittlich geratenen Wohngebäuden auch in Frage gestellt, ob alles grundsätzlich irgendwie aufregend sein muss, um eine lebenswerte Stadt zu erreichen. Die Landschaftstreppe ist schön, aber meistens leer. Erfüllen Freiräume ihren Zweck, wenn sie frei von Menschen sind? Oder kann dies gerade auch einen Kontrapunkt zum üblichen Anspruch einer unbedingten Nutzbarkeit darstellen?

Barbican Centre, London 1963 – 1976
Planung: Chamberlain, Powell und Bon

Ein neues Quartier in der Londoner City anstelle eines vom Krieg zerstörten Quartiers mit 2000 Wohnungen in Verbindung mit dem größten Kultur- und Kongresszentrum Londons. Die Anlage in der Art der radikal-konsequenten Nachkriegsmoderne war zunächst von ärmeren Schichten bewohnt und eher als Problemviertel gesehen, wird aber inzwischen von solventen Berufsgruppen aufgesucht, die das urbane Gefüge wertschätzen, einerseits die attraktive Innenstadtlage, andererseits den geschützten , ruhigen und völlig autofreien, aber formal spannungsreichen Binnenraum.

These: Schön ist, wenn Architektur und Raum einer gesellschaftlichen Utopie Ausdruck verleihen!
Frage: Können neue technische Möglichkeiten neue Qualitäten von Stadträumen erzeugen?

Die Diskussion über den Brutalismus der Architektur offenbarte ein gängiges sprachliches Missverständnis mit der Assoziation von „brutal“, was man gleichwohl positiv als „kraftvoll“ werten wollte. Erstaunlich auch, dass die in die Jahre gekommene, einst verheißungsvoll neuartige Stadtutopie nicht mehr von ihrer später negativ bewerteten Erscheinung verstanden wird, sondern von ihren inzwischen wieder wertgeschätzten urbanen Qualitäten.

 

Bericht über die Veranstaltung als PDF:

Bericht_ueber_Veranstaltung_10.11-1 [PDF 39,35 KB]

Die auf der Ebene wissenschaftlicher Forschung durchgeführten Perspektiven Zwischenstadt und Shrinking Cities sind bestenfalls Analysen, haben aber von der wesentlichen Frage nur abgelenkt: In welchem Stile sollen wir (Stadt) bauen?

Dabei sind es die heutigen Rahmenbedingungen und damit sehr allgemeine Voraussetzungen, die in ihrem Umfang bislang unzureichend erkannt wurden. Sie erfordern zuallererst ein Umdenken in der Gestalt der Entwicklungsperspektive. Die bisher zumeist auf Leitbildern basierenden Entwürfe erfahren große Probleme in der Prozessualität ihrer Umsetzung. Mehr denn je gilt es die Organizität dessen anzuerkennen, was man als Stadt zu bezeichnen gewohnt ist. Die Forderung schließt an den Begriff der Stadtlandschaft an, ohne sich in dessen Bildhaftigkeit zu verfangen. Dabei sind es gerade die realen Bilder der Städte, die uns die Begrenztheit von Planung und damit die Begrenztheit des Menschen überhaupt vor Augen führen. Das Erreichen einer Grenze ist eine schwierige wie wertvolle Erfahrung, schließlich verdeutlicht die Grenze sowohl die kulturelle Relevanz, als auch das kulturelle Potential von Planung. Das größte Problem, das sich den Beteiligten in dieser Situation stellt, liegt in der Antizipation, die unweigerlich mit der Planung verbunden ist. Jeder Entwurf hat ein Verfallsdatum, wobei sich gute Entwürfe durch ein möglichst geringes Maß an Antizipation und damit durch eine längere Haltbarkeit auszeichnen.

Städtebauliche Entwürfe werden wesentlich durch wirtschaftliche und politische Faktoren beeinflusst. Städtebau ist im Gegensatz zur Architektur grundsätzlich politisch. Das Recht auf Freiheit nimmt in den westlichen Demokratien einen vergleichsweise hohen Stellenwert ein. So liegt das politisch Verhandelbare stets nahe am kleinsten gemeinsamen Nenner der zur Entscheidung berechtigten Öffentlichkeit. Dieser Schwachpunkt im System Demokratie ist letztlich der Grund für den Erfolg immer größerer geschlossener Systeme, wie beispielhaft der Gated Communities und Shopping Malls, die eigentlich nichts anderes tun, als die aus dem Freiheitsanspruch des Einzelnen resultierenden Störfaktoren zu minimieren. Vom Erfolg dieser Systeme zu lernen, ohne deren fatale Entwicklung fortzusetzen, ist einer der Ansprüche, die hier formuliert werden sollen.

Die meisten städtebaulichen Konzepte der Vergangenheit zerbrachen an dem in der Planung ignorierten Faktor Zeit. Die stetig wechselnden Parameter von Stadt führen dazu, dass selbst neu entwickelte Bildversprechen schon nach kurzer Zeit nicht mehr eingelöst werden können. Begreift man das Geflecht heutiger Stadtagglomerationen ein Stück mehr als Organismus, geraten Eingriffe zu Implantationen. Städtebau bezeichnet zwar eine durch Verfasstheit bestimmte Form von Stadt, doch handelt es sich in der Regel um überschaubare Einheiten, die bereits bestehende Siedlungsgefüge ergänzen. Städtebau entwerfen heißt somit, den Ausschnitt eines größeren Ganzen zu entwerfen, das selbst nicht mehr die Stadt, sondern ein sich stets entwickelndes polyzentrisches Netz von Siedlungsstrukturen ist. . Eine wesentliche Qualität städtebaulicher Entwürfe misst sich in ihrem Verhältnis zu diesem größeren Ganzen, nicht nur als baulichen, sondern auch als gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen Kontext. Die zwei diametral entgegen gesetzten Möglichkeiten der Stellungnahme dazu lauten Autonomie oder Kontextualität. Das Erste bedeutet Isolation, das Zweite Vernetzung. Als Extreme sind sie ebenso unbrauchbar wie uninteressant. Gute städtebauliche Entwürfe sind wie gute Implantate, formal und infrastrukturell gleichzeitig autonom und vernetzt, möglichst natürlich – künstlich. Allgemeine Wachstums- und Schrumpfungsprozesse spielen ebenso eine Rolle wie die aktuellen Anforderungen der Immobilienwirtschaft und sollten bei der Planung berücksichtigt werden. Die vierte Dimension der Stadt muss bei ihrer Konstitution mit entworfen werden.

So ist für den neuen Städtebau eine strategische Methode zu entwickeln, die den immer und nie fertigen Zustand der Stadt nicht nur akzeptiert, sondern voraussetzt. Es geht darum, Möglichkeitsräume zu schaffen, die sich einer endgültigen Form verweigern. Die Wiederentdeckung des Ideals der europäischen Stadt ergoss sich in postmodernen Bilderwelten.  Koolhaas kritisierte sie als eine “Welt ohne Urbanismus  …nur noch Architektur.“ Dem lässt sich die „unfertige Stadt“ gegenüber stellen. Eine Stadt die nicht das eine Bild annimmt, die konträr dazu Brüche und Ungereimtheiten nicht nur akzeptiert sondern gerade fordert und mit entwirft – die räumliche „Gelegenheit“ steht vor der ästhetischen Präfabrikation.

Zum besseren Verständnis könnte eine Analogie zum Begriff der „konglomeraten Ordnung“ von Alison und Peter Smithson helfen. Sie schrieben der konglomeraten Ordnung die Eigenschaft zu, sich schwerlich im Gedächtnis zu verankern, „nur wenn man wirklich dort ist, dann scheint alles ganz einfach“. Durch diese Komplexität bildet sich eine räumliche Präsenz von Stadt, die über die Präsenz des Objektes hinausgeht. So gesehen sollte es auch ein Mittel des Städtebaus sein, Komplexität, Differenz und Heterogenität zu betonen, Brüche und Zweckentfremdung zu ermöglichen.

Ausgehend von diesem Verständnis sehen wir städtebauliche Projekte als eine Mischung aus Prozess und Produkt, aus Verfahren und Gestalt.  Der Willen zur Form und der Hang zum Verfahren, um die Tendenzen der beiden Professionen Architektur und Stadtplanung zu nennen, gilt es immer wieder neu zu verhandeln.

Dies aber nicht nur auf der strukturellen Ebene aller Handlungsbeteiligter, der Raum selber muss dieser Justierung folgen. Das Ziel ist eine urbane Kontingenz – eine Sichtweise in der nicht Architektur und Städtebau zwei Bereiche sind, Objekt und Kontext bedingen sich hier vielmehr wechselseitig.

Wenn eingangs der Wunsch nach dem Mitentwerfen der vierten Dimension erwähnt wird, so will das nicht weniger, als mit der beschriebenen Wechselseitigkeit alle Eventualitäten aufzunehmen. Der Raum ist eine Form des Nebeneinanders, die Zeit dagegen eine Form des Nacheinanders. Diese Widersprüchlichkeit ist zu vereinen in einem Stadtraum der Gleichzeitigkeiten.

Die geforderte vierte Dimension, also die Zeit als strategische Komponente im Entwurf, meint aber gerade nicht die gewohnte Sichtweise auf ökonomisch technisch bedingte Baufolgen und Baustufen. Vielmehr ist es von entscheidender Bedeutung einen flexiblen Plan zu denken und zu entwerfen – Flexibel in seinen unterschiedlich möglichen Entwicklungsstufen und seinem „Endzustand“. Bei der Entwicklung eines städtischen Areals können sich die Parameter im Laufe der Phasen ändern, hier darf der Planungsstand nicht nur mehr reagieren, sondern die Planung sollte so strategisch konzipiert sein das diese Eventualitäten bereits als Szenarien implementiert sind. Das Ganze ist wie die beweglich flexible Masse eines Gummibandes zu sehen welches zwar in Material und Struktur kontinuierlich ist, dessen Form aber auf unterschiedlichste Einflüsse von innen und außen reagieren kann und das in jeder erdenklichen Form einen Zusammenschluss leistet.

Aus der geschilderten Sichtweise kommen wir wieder zu dem eingangs erwähnten Aspekt der Voraussetzungen. Bestand und Programm stehen in einer unmittelbaren Wechselbeziehung. Wir unterscheiden uns grundlegend von dem „Neuen“ in der Moderne, denn dieses Neue ist nicht mehr anzutreffen. Da es den geschichtslosen Ort in unserer Kulturlandschaft nicht gibt, ist Bauen heute immer Umbauen. So wird die Formulierung der Aufgabenstellung ein zunehmend bedeutender Teil der Arbeit von Architekten sein. Es gilt bereits die Nutzungs- und Programmdefinition eines Ortes als Teil des Entwurfes strategisch mitzugestalten.

Publiziert in:
Architektur und Wettbewerbe 12/2008
Karl Krämer Verlag, Stuttgart
Leitartikel S. 2-3 (in Koop. mit V. Kleinekort)

AW 216 Essay 021208 ES [PDF 134,87 KB]

Ein Plädoyer für den Kommensalismus

Verfasser:
Björn Severin, Düsseldorf
Dirk Weiblen, Shanghai

Deutz
Im Gegensatz zur Planung eines Gauforums durch die Nazis blieb Deutz in den Nachkriegsjahrzehnten von größeren urbanistischen Utopien verschont. Die überhaupt größte Utopie vor und nach dem Krieg war die, Deutz als Teil der Kölner Innenstadt zu begreifen, was stets misslang. Zu viele Kräfte definierten den Strom bewusst als Stadtgrenze, wodurch Deutz ein fast beliebiger Vorort von Köln blieb. Diese Tatsache macht Deutz hinsichtlich seines aktuellen Planungspotentials umso interessanter und fordert in der zur Verfügung stehenden Größenordnung einen Entwurf von utopischer Relevanz heraus.

Utopien verstehen wir als den in die Zukunft gerichteten Teil jeglicher Ideologien. Demnach beklagen wir heute keinen allgemeinen Utopie- oder Ideologieverlust, da wir der Meinung sind, dass sich lediglich die gesellschaftlichen Blöcke/Gruppen aufgelöst haben, die in der Vergangenheit verschiedene Utopien zu gesellschaftspolitischer Bedeutung verholfen haben.

Für Deutz bleibt die Entwicklung zu einem zentralen Stadtviertel mit zahlreichen übergeordneten Einrichtungen ein Ziel, dass nicht unerreichbar bleiben muss. Beste Voraussetzungen bieten hierfür ein überdurchschnittliches Maß an Erschließung. Brücken, Schnellstraßen, Autobahnen und die zentrale Eisenbahntrasse Kölns sorgen für eine gute überregionale Anbindung. Gleichzeitig sind diese Infrastrukturen mitverantwortlich für die isolierte Insellage innerhalb des Kölner Stadtgefüges.

Eine weitere spezifische Eigenschaft von Deutz ist der Maßstabswechsel zwischen dem kleinteiligen urbanen Kern und den ihn wie Satelliten umgebenden Großeinrichtungen. Die Messe, der Komplex von Kölnarena und Stadthaus, die Fachhochschule sowie die Hochhäuser von Landschaftsverband und Lufthansa sind von überregionaler Bedeutung und nutzen hier die gute Verkehrsanbindung und die Nähe zur Kölner Innenstadt.

Rätselhaft ist nur, warum der Uferstreifen zwischen dem Lufthansahochhaus und dem Deutzer Hafen unbebaut, bzw. noch Jahrzehnte nach dem Ende der einst gewerblichen Nutzung ungestaltet blieb. Auch das in den Nachkriegsjahren im Sinne einer durchgrünten und durchlüfteten Stadt sehr großzügig angelegte Abstandsgrün im Bereich der Auffahrt zur Severinsbrücke, scheint aus heutiger Sicht kaum noch nachvollziehbar, zumal es den südlichen Teil vom restlichen Stadtviertel völlig abkoppelt. Zieht man beide Teilflächen zusammen, so ergibt sich ein Plangebiet von städtebaulicher Dimension.

Kommensalismus
Weil Stadt niemals und deshalb gleichzeitig immer fertig ist, kam es uns nicht auf die Entwicklung eines Leitbildes an, sondern auf ein Konzept, das Stadt generierende Faktoren strategisch einsetzt. Es beruht auf einer grundsätzlich organischen Vorstellung von Stadt.
Kommensalismus beschreibt das einseitige Beziehungsverhältnis eines Lebewesens zu einem anderen. Im Unterschied zum Parasitismus wird der „Wirt“ hierdurch aber nicht gestört. Somit befindet sich der Kommensalismus auf der Mitte der Skala vom Parasitismus zur Symbiose, die eine ideale win-win-Situation darstellt. Bezogen auf die Stadtentwicklung können sich Symbiosen aufgrund eigener Kräfte durchsetzen. Kommensalistische Beziehungen haben es hier aufgrund des in unserer demokratischen Verfassung stark verankerten Freiheitsanspruch des Einzelnen sehr schwer. Dennoch ergeben sie einen urbanen Mehrwert, der dem „modernen“ Städtebau abhanden gekommen war. Somit beginnt ein Städtebau des Kommensalismus über die Definition der Attraktoren, die schließlich selbst auch in ein Beziehungsgeflecht von Abhängigkeiten eingebettet sind, das jedoch aufgrund eines größeren Maßstabs zumeist unerkannt bleibt. Untersucht man die bestehende Kölner Innenstadtstruktur, so stellt man fest, dass alle großen kulturellen Attraktoren über einen unmittelbaren Zugang zu übergeordneten Straßen und zu Knotenpunkten des öffentlichen Personennahverkehrs verfügen. Betrachtet man das unmittelbare Umfeld dieser Attraktoren, so fällt auf, dass sich hier ein feinmaschiges Netz von Straßen und Plätzen entwickelt hat, das letztlich die urbane Qualität Kölns definiert.

In Analogie zu dieser beschriebenen Kontingenz schlagen wir für das Deutzer Rheinufer 3 Attraktoren unterschiedlichen Typs vor:

1. Europäische Kunsthalle Köln
Die vor einem anderen Hintergrund entwickelte Idee einer europäischen Kunsthalle Köln wird von uns aufgegriffen, da der Standort am Rhein großzügiger erscheint als in Verbindung mit dem Rautenstrauch-Joest-Museum auf dem Grundstück des ehemaligen Josef-Haubrich-Forums. Eine Kunsthalle benötigt neben eher klassischen Ausstellungssälen vor allem Raum für experimentelle Kunst, dass heißt möglichst viel Raum in wandelbarer Rohbauqualität. Dies bietet der Standort Deutz mit einem zum Rhein offenen Untergeschoss von ca. 3, 5 Hektar Grundfläche. Das Dreieck zwischen Deutzer Brücke, Siegburger Straße und Rhein steht von April bis Oktober für Wechselausstellungen zur Verfügung und dient im Winter als Retentionsraum für Rheinhochwasser. Alle ganzjährig genutzten Flächen befinden sich im kleineren oberirdischen Teil der Kunsthalle, der wesentlich nach dem Prinzip der Uffizien von Vasari organisiert ist.

Gleich diesem Vorbild sei der Weg zur Kunst architektonisch formuliert und somit von den Hauptwerken der Kunst getrennt. Ein möglichst einfaches Organisationsprinzip verbindet unterschiedlichste Ausstellungsraumtypologien miteinander. Der Orientierung vermittelnde zentrale Hof ist eine öffentliche Passage zum Flussufer. Die wichtigste Analogie ist jedoch das „Eingebautsein“ in eine dichte Stadtstruktur, welche die Architektur vom Repräsentationszwang eines Objekts entbindet. Gerade dies lässt die Uffizien heute als eines der modernsten Museen der Welt erscheinen. Darüber hinaus verhindert eine nach innen gerichtete Fassade Störungen im Sinne eines Interessenkonflikts mit denen vom Attraktor Kunsthalle angezogenen Kommensalen. Diese klammern sich nach dem Prinzip „back to back“ so nah wie möglich an die Kunsthalle, um von ihr zu profitieren. Gemeint sind hiermit z. B. private Galerien, spezifische Einzelhandelssortimente, Showrooms, vor allem aber gastronomische Angebote. Hierin einen urbanen Mehrwert zu erkennen ist Ausgangspunkt des Kommensalismus.

2. Rheinpromenade Deutz
Eine Promenade entlang des Rheins ist der selbstverständlichste Attraktor dieses Ortes. Sie verknüpft nicht nur den Rheinpark/Tanzbrunnen im Norden mit den Poller Wiesen im Süden, sondern vor allem den Deutzer Stadtraum mit dem Rhein. Hierzu ist die Promenade in 2 Wege geteilt, die sich immer wieder berühren und dadurch vielfältige Blickbeziehungen eröffnen. Dies lässt vor allem möglichst viele Anlieger an der Promenade partizipieren.

An der Promenade wird gewohnt, gearbeitet, Sport getrieben, gespielt und entspannt. Demnach sind die baulichen Einrichtungen ein Mix aus Hotels, Wohn- und Bürohäusern, Sport- und Fitnessstudios, Cafes, Restaurants, kleinteiligem Einzelhandel und natürlich zahlreichen Outdoor-Angeboten einschließlich Sport- und Spielplätzen.

3. Subzentrum Deutz
Dass durch die beiden Initialprojekte Kunsthalle und Promenade erzeugte Wachstum des Stadtteils erfordert weitere Nahversorgungseinrichtungen, die im Auffahrtsbereich zur Severinsbrücke zentral zusammengeführt werden.

Ein Wochenmarkt, kleinere Verbrauchermärkte, weitere Einzelhandelsangebote sowie medizinische wie soziale Einrichtungen bilden ein Subzentrum in Ergänzung zum bestehenden Stadtteilzentrum „Deutzer Freiheit“. Wohnungsbau und Bürogebäude, zum Teil als Lärmschutzbebauung gegen die stark lärmbelastete Brückenrampe, verdichten das Subzentrum zu einem urbanen Knotenpunkt im rechtsrheinischen Stadtgefüge.

Eigenschaften und Tools
Kommensalismus verklammert, integriert, verdichtet und überlagert. Kommensalistischer Städtebau ist:
– ein offenes System geschlossener Einzelteile
– agglomerativ oder konglomerativ
– plural und polyzentrisch
– öffentlich – soweit es geht, aber nicht öffentlicher als es sein muss

Das wichtigste Element kommensalistischer Planung ist die Wand. Erst die Wand ermöglicht das räumlich dichte Zusammenleben der Menschen. Sie bedeutet eine Grenzziehung z. B. zwischen privat und öffentlich. Die Wand trennt innen von außen, bzw. trennt einen Innenraum von einem anderen Innenraum. Durch dieses „back to back“ tritt nicht mehr die Wand in den Vordergrund, sondern nur noch der Raum, der das eigentliche Ziel jeder Wand ist. Kommensalistische Räume lassen sich sehr einfach in 2 Kategorien fassen, die unterschiedlicher nicht sein können:

1. Der bestimmte Innenraum, der klimatisch aber auch ein Außenraum sein kann. Er wird vom jeweiligen Nutzer in Funktion und Gestaltung bestimmt.
2. Der unbestimmte Außenraum ist der nicht kontrollierbare öffentliche Raum. Er ist in seinem Grundcharakter ungerichtet bzw. informell und lässt sich nicht vollständig planen.

Ein Fehler wäre, den unbestimmten Außenraum als „junk space“ oder verseuchten Rest zu begreifen. Nur er bietet die übergeordnete Gemeinsamkeit, die der Tisch (lat. Mensa) im Begriff des Kommensalismus beschreibt.

Reconsidering Utopia(s)
Vergleicht man den Kommensalismus mit den modernen Utopien des 20. Jahrhunderts, so stellt man fest, dass nur wenige Ansätze über eine vergleichbare urbane Absorptionskraft verfügen. Alle frühen Utopien des vergangenen Jahrhunderts setzen ganz im Gegenteil auf Funktionstrennung, statt auf urbane Hybridstrukturen. Erst das Team X in Europa, aus dem sich später die Strukturalisten rekrutierten und die japanischen Metabolisten schufen Visionen, die auf unterschiedlichen Ebenen Analogien zum Kommensalismus aufweisen:

1. A&P Smithson (Team X)
Der von den Smithsons geprägte Begriff der „konglomeraten Ordnung“ beschreibt recht gut die spezifischen Qualitäten des oben beschriebenen unbestimmten Außenraums. Jedoch entwarfen sie hierzu noch kein Gegenstück – den bestimmten Raum, der ihnen das Problem der einseitigen informellen Architektur erspart hätte.

2. Die Strukturalisten
Das Ziel der Strukturalisten war ein totaler Kontext, den es als Metastruktur zu entwerfen galt. Er bedeutete alles und musste deshalb alle wesentlichen Elemente des menschlichen Lebens absorbieren. Im Gegensatz zum Kommensalismus vertrat der Strukturalismus einen universellen Anspruch – der von der völligen Planbarkeit der menschlichen Lebenswelt ausging.

3. Die Metabolisten
Der großen Bedeutung der Natur im traditionellen japanischen Kulturverständnis folgend, basiert diese moderne Architektur- und Städtebauvision auf einem organischen Ansatz. Im Unterschied zum Kommensalismus liegt aber der Schwerpunkt der Idee auf den sog. Stoffwechselprozessen, die hier als das Wesensmerkmal einer neuen Architektur, bzw. eines neuen Städtebaus herausgearbeitet wurden.

 

Text mit ergänzenden Abbildungen:

RecUt_Journal - Reconsidering Utopias[PDF 4,33 MB]

DEUTSCHLANDSCHAFT/DEUTSCHLANDSCAPE
Epizentren der Peripherie

Die Ausstellung im Deutschen Pavillon setzt sich mit der symptomatisch konturlosen Architektur in den Randgebieten unserer heutigen Städte und Metropolen auseinander. Indem sie architektonische Projekte in den Mittelpunkt rückt, die konventionellen Bauformen neue Alternativen entgegensetzen und vernachlässigte, suburbane und de-industrialisierte Gebiete reaktivieren, stellt die Ausstellung die Peripherie als zeitgenössisches Phänomen zur Debatte, die in ganz Europa und darüber hinaus zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Die DEUTSCHLANDSCHAFT zeigt eine heterogene Auswahl von 38 architektonischen Projekten, die in den letzten vier Jahre in Deutschland verwirklicht wurden, und rückt damit herkömmliche Vorstellungen der deutschen Architekturszene in ein neues Licht. Die Arbeiten einer kritischen Generation von Architekten begegnen den problematischen und oftmals einengenden Umständen am Rande des Urbanen mit neuen Strategien. So veranschaulicht die Ausstellung eine Auseinandersetzung mit dem Vor-Stadtbild unserer Zeit: den von Wohnsiedlungen durchzogenen Ballungsräumen aus Lagerhallen, Einkaufszentren und Gewerbegebieten. Die Ausbreitung dieser diffusen Landschaften entwickelt sich unter Architekten und Stadtplanern verstärkt zu einem zentralen Thema.

DEUTSCHLANDSCHAFT versteht sich als Träger transformativer Architektur, der sich durch den ganzen Pavillon zieht. Die 80 Meter lange Fotocollage bedient sich dabei des Panoramas – das privilegierte Instrument urbaner Visionen der Moderne. Diente jedoch das Panorama von einst den Bürgern der Stadt zur Veranschaulichung des baulichen und sozialen Gefüges ihrer Metropolen, stellt die DEUTSCHLANDSCHAFT eine Neuinterpretation dar und lenkt das Augenmerk auf die Ambivalenz und das Unbehagen, die an der Peripherie spürbar werden. Die Fotografie – die verführerischste Darstellungsform von Architektur ermöglicht dabei ein Wechselspiel zwischen Realität und Fiktion, wenngleich die einzelnen Projekte in ihrem thematischen Kontext belassen wurden.

Hinter dem Panorama greift eine zweite, disruptive Schicht als ‚Quellcode‘ in die Gestaltung ein: Planungsvorgaben und Bauvorschriften, die in das oftmals surreal anmutende Nebeneinander und die markanten architektonischen Wandlungen Einblick geben. Die in der DEUTSCHLANDSCHAFT vereinten Projekte stellen eine gemeinsame Haltung dar, die im Zentrum des Pavillons in Video-Interviews und Zitaten der Protagonisten thematisch ausgeleuchtet wird. Die eigens für die Ausstellung entworfenen Informationsund Sitzkörper laden den Besucher ein, am Dialog teilzunehmen oder im Katalog zu blättern.

Die Projekte setzen als ‚Epizentren der Peripherie‘ architektonische Schlaglichter. Sie beweisen, dass Architektur imstande ist, auch in homöopathischer Dosierung Paradigmen zu verschieben – und das in Gebieten, die gegen Veränderung immun erscheinen. Die urbanen Randgebiete bieten somit ein signifikantes Potenzial für architektonische Neuerungen.

Umgestaltung der Normen

Der provinzielle, durch Konventionen eingeengte Rahmen der Peripherie stellt eine Herausforderung dar, der provokante Gebäude – in Form und Material – mit Ironie und einem Spiel mit Ambivalenzen entgegentreten: Allmann Sattler Wappner treiben die klassische Form des ‚Monopoly‘-Hauses auf die Spitze und verleihen dem Verwaltungsgebäude des Verbands ‚Südwestmetall‘ in Reutlingen durch ihre Stahlverkleidung eine unwirkliche Aura; Bottega + Ehrhardt polemisieren die Planungsvorgaben, indem sie in eine Wohnstraße in Ludwigsburg einen urbanen Monolithen setzen; Florian Nagler gibt der Ästhetik traditioneller Bauformen eine partielle Wendung, indem er die Fassade eines Einfamilienhaus in Gleißenburg mit Polykarbonat verkleidet; Björn Severin (Rheinflügel Baukunst) und Heide von Beckerath Alberts brechen die Eintönigkeit von Wohnsiedlungen mit Einschnitten, Versetzungen und Verkleinerungen, um im Reich des ‚Do it yourself‘ eine Sphäre für den Architekten zurückzuerobern.

Architektur auf den zweiten Blick

Durch die geschickte, kreative Umgestaltung des Geläufigen kann Architektur das funktionale Gefüge des Alltäglichen verändern. Regina Schineis beugt das Profane, indem sie Trafostationen und Straßenbahnhaltestellen mit Hilfe von Licht und Texturen skulpturale Eigenschaften verleiht. Arno Lederer von Lederer Rangsdottir Oei Architekten fordert eine ‚Architektur auf den zweiten Blick‘, die anhand minimaler Abweichungen von üblichen Materialien und Typologien enigmatische Formen schafft. So etwa das Schulgebäude im Scharnhauser Park, das in einem neu entstandenen Stadtgebiet noch ohne erkennbare Identität gewisse Erinnerungen hervorruft. Bolles + Wilson gestalten in einem andernfalls reizlosen Gewerbegebiet in Loddenheide ein Pumpenhaus als ‚folly in the landscape‘, der deutlich machen soll, dass man in der Peripherie mit dem Gewöhnlichen oder Unschönen arbeiten muss. Hild und K setzen auf dieselbe Taktik und versehen ein mehrstöckiges Parkhaus mit einem subtilen Ornament.

Die Gestaltung der Zwischenräume / Die Lücke

Mehrere der vorgestellten Projekte schaffen Veränderungen durch die Neugestaltung brachliegender Flächen. Indem sie begrenzte Räume sowie Schlupflöcher in den Bauvorschriften maximal ausreizen, entwickeln Manuel Herz (Legal/Illegal) und Deadline (Slender/Bender) ausgefallene Formen, die durch ein konzeptionelles Recycling von Materialien den Status des Dazwischenseins oftmals noch unterstreichen. Surreale architektonische Versatzbauten und bewegliche Module entfalten das Potenzial zur Reaktivierung von Brachen und ehemaliger Industriegelände: Peter Haimerls ‚Cocobello’, der Imbiss-Ponton von Meixner Schlüter Wendt oder das ‚Werkschwimmbad‘ der Künstler Paschke und Milhonic, das in einer stillgelegten Kokerei installiert wurde. Muck Petzet in Meier-Scupin & Petzet und Zimmermann + Partner entwickeln wegweisende Alternativen zum großflächigen Abriss von Plattenbausiedlungen in Satellitenstädten, die einem dramatischen Bevölkerungsschwund gegenüberstehen, und setzen mit ihren Projekten architektonische Marksteine.

Die DEUTSCHLANDSCHAFT zeigt, wie pragmatisch flexibler Umsetzungswille in Verbindung mit ironischer Selbstreflexion einer kritischen Generation von deutschen Architekten die Beharrlichkeit und Wahrnehmungsschärfe gibt, Einschränkungen in Möglichkeiten zu verwandeln.

Francesca Ferguson, August 2004

 

Text Rudolf Stegers – „Ruinöses in Suburbia“:

DLS_Steger_Suburbia [PDF 41,14 KB]